INTERVIEW
"Ich
dachte, es ist Liebe"
Markus
Dietz (55) war als Kind selbst Opfer häuslicher Gewalt. Vor sechs
Jahren hat er in Frankfurt die "Selbsthilfegruppe Seelische und
körperliche Gewalt in der Kindheit" gegründet. Er kämpft dafür, dass
das Thema mehr an die Öffentlichkeit kommt - und dass sich Nachbarn
einmischen.

Frankfurter
Rundschau: Herr Dietz, bei den entsetzlichen Fällen von
Kindesmisshandlung in den vergangenen Monaten hieß es immer wieder,
alle hätten weggeschaut. Ein berechtigter Vorwurf?
Michael Dietz: Bestimmt. Das Problem ist, dass
Erziehung immer noch als Privatsache gilt, in die man sich nicht
einzumischen hat. Außerdem ist das für viele normal, denn autoritäre
Erziehung hat sich über Generationen vererbt. Das gemeinschaftliche
Wegschauen hat Tradition.
Haben die Leute nicht einfach
Angst vor heiklen Situationen?
Man muss ja nicht gleich
die Polizei oder das Jugendamt anrufen. Man kann mit den Eltern
reden. Oder anonym eine Beratungsstelle kontaktieren. Einmischung
ist ganz wichtig, wichtiger als Gesetze.
Hätten Sie sich
als Kind gewünscht, dass die Leute
hinschauen?
Unterbewusst. Dass mir Gewalt angetan wurde,
das war kein Geheimnis, das war normal damals. Ich dachte, das ist
Liebe, weil es sich gehört, dass eine Mutter ihr Kind liebt.
Trotzdem habe ich mich einsam gefühlt, habe mich
isoliert.
Auch noch als Erwachsener?
Ja,
natürlich. Einsamkeit, die Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen und
Gefühle zu entwickeln, Selbsthass, Schuldgefühle, Depressionen,
Angstzustände, das alles bleibt und führt wiederum zu Problemen in
der eigenen Familie.
Das heißt, wer geschlagen wurde,
schlägt selbst?
Alle, die schlagen, haben in ihrer
Kindheit selbst Gewalt erlebt. Man hat es ja nicht anders gelernt.
Das ist eine Spirale der Gewalt, die immer weiter geht, wenn man
nichts unternimmt.
Was hilft, die Vergangenheit zu
bewältigen? Eine Psychotherapie?
Die meisten, die
realisiert haben, was passiert ist, gehen in Therapie. Für mich ist
die Selbsthilfegruppe am wichtigsten. Auch beim Therapeuten werden
Situationen manchmal kleingeredet oder von außen zu erklären
versucht. In der Gruppe sitzen Leute, die das, was ich erlebt habe,
einschätzen und verstehen können.
Gibt es einen wichtigen
Punkt der Erkenntnis?
Dass es Opfer und Täter gibt. Das
ist einerseits schrecklich, wenn einem bewusst ist, dass die eigene
Mutter Täterin ist. Die wollte doch nur mein Bestes. Es ist aber
auch erleichternd, weil man weiß: Ich war nicht böse, ich hatte
keine Schuld. Als Kind wird einem ja suggeriert, man habe das doch
verdient.
Wie gehen Sie in der Gruppe mit dem Erlebten
um?
Das wichtigste ist, dass wir miteinander reden und
uns zuhören, uns den Raum zugestehen, den wir als Kinder nie
bekommen haben. In den Gesprächen geht es ganz bewusst um uns,
unsere Erlebnisse und darum, sie in unser Leben einzubauen. Wir
tasten uns an Gefühle heran, die wir verdrängt haben. Wut, die kommt
meistens als erstes. Wut ist nicht nur negativ, Wut gibt auch
Kraft.
Sie müssen also viele Dinge ganz neu
lernen?
Wir müssen nachholen, was wir als Kinder nicht
erfahren haben. Vertrauen, Nähe erleben, Nein sagen, sich Konflikten
stellen. Das ist für Erwachsene, die misshandelt wurden, schwer. Man
hat Angst, abgelehnt zu werden.
Bei vielen Opfern dauert
es Jahrzehnte, bis sie darüber reden können. Viele können es erst,
wenn die Eltern tot sind. Warum ist das so schwer?
Man
fühlt sich als Verräter, als Nestbeschmutzer. Aber es ist der erste
Schritt, um diese Erinnerungen loslassen zu können, damit wieder
Platz ist für schöne Erlebnisse.
Interview: Kathrin
Hartmann
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2005 Dokument erstellt am 21.04.2005 um 16:40:21
Uhr Erscheinungsdatum 22.04.2005  |